Abgehört zum 1. Mai: „Hat sich der Kapitalismus totgesiegt?“ von Hartmut Rosa

OLYMPUS DIGITAL CAMERAAnlässlich des 1. Mai hat MDR-Figaro einen Vortrag des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa wiederholt gesendet, den er bereits am 22. Juni 2013 im Rahmen der Konferenz „Das System des Kapitalismus – Grundlagen, Dynamik und Kritik“ in Dresden gehalten hat. Die titelgebende Frage „Hat sich der Kapitalismus totgesiegt?“ lädt geradezu dazu ein, den Vortrag inhaltlich und thesenhaft auf den „Tag der Arbeit“ zu beziehen und damit spielerisch seinem Bedeutungsverlust auf den Zahn zu fühlen.

1990 erschien unter dem Titel „100 Jahre Zukunft“ ein Band über die Geschichte des 1. Mai, herausgegeben von Inge Marßolek. Der Kampf- und Feiertag, so macht es der Titel anlässlich des 100. Jahrestages deutlich, ist ohne den Begriff der Utopie nicht denkbar. Diese meint im Kontext der an sozialistischen Ideen ausgerichteten Arbeiterbewegung den zuversichtlichen und hoffnungsvollen Blick in Richtung Zukunft, der „Befreiung des Proletariats“.

Hoffnungsvoll der Sonne entgegen
Auf Plakaten war dies oft symbolisch einleuchtend die aufgehende Sonne, der die Menschen energisch entgegenlaufen. Auf ihrem Strahlenkranz prangte nicht selten der Schriftzug „1. Mai“ als froher Hoffnungstag. Nun ist das nicht allzu verwunderlich, denn der 1. Mai ist ebenfalls ein fester Brauchtumstermin, an dem – anknüpfend an Walpurgis des Vorabends – der Frühling eingeläutet wird.

So verbindet sich beispielhaft in der Sonne die Frühlingsmetaphorik der Maibräuche mit den Bestrebungen der Arbeiterbewegung, die – so viel Bildsprache sei hier gestattet – den eisigen Winter unmenschlicher Arbeitsverhältnisse in den Fabriken mit 12- bis 14-Stunden-Tagen, hoher Unfallhäufigkeit, Kinderarbeit und körperlich-geistigen Folgeschäden, zu überwinden sucht und kollektiv entsprechende Forderungen stellt, allen voran den Achtstundentag.

OLYMPUS DIGITAL CAMERADiese Möglichkeiten der Verbesserung wiesen stets auf einen Punkt, an dem sie hoffentlich einmal durchgesetzt sein werden: in die Zukunft. Und rückblickend ist das die heutige Zeit.

Kampftag der Arbeiterschaft?
Mehr als 100 Jahre nach den ersten Maidemonstrationen hat der 1. Mai seine Bedeutung als Arbeiterkampftag allerdings eingebüßt. Er ist in erster Linie Feiertag. Die Gründe dafür liegen zum Teil auf der Hand: Der Achtstundentag ist durchgesetzt und die Arbeitsbedingungen haben sich, nicht nur in der Produktion, mit fortschreitender Modernisierung und Technisierung verbessert. Was allerdings noch stärker wiegt: Die sozialistische Idee, aus der sich der 1. Mai seit seinen Anfängen gespeist hat, ist historisch gescheitert.

Andererseits finden sich mögliche Gründe im Kapitalismus selbst. Denn der 1. Mai ist seit jeher eine Reaktion auf die kapitalistischen Produktionsverhältnisse im Zuge der Industrialisierung.
Sie war seit dem späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert die Beschleunigungsphase der Moderne schlechthin – oder besser: in die Moderne. Die zahlreichen technischen Neuerungen und die Entwicklung von der Agrar- zur Industriegesellschaft sind Grundvoraussetzungen dieser „neuen Zeit“.

Totale Beschleunigung aller Lebensbereiche
Von den beschleunigten und beschleunigenden Veränderungen im Sinne gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Umstrukturierung waren alle Lebensbereiche ergriffen: Von Massenproduktion und Verstädterung bis zu Bevölkerungsexplosion und Pauperismus.

Dieser Beschleunigungsprozess findet nach wie vor statt und wir leben heute geradezu in einem „Beschleunigungstotalitarismus“. Das jedenfalls sagt Hartmut Rosa in seinem Vortrag „Hat sich der Kapitalismus totgesiegt?“. Von Totalitarismus sei dann die Rede, wenn alle Bevölkerungsgruppen und alle Lebensbereiche gleichermaßen betroffen sind, so Rosa.

Diese These des Jenaer Soziologen und Beschleunigungstheoretikers basiert auf der Feststellung, dass das Grundmotiv des Wirtschaftens im Kapitalismus gar nicht primär Tauschgeschäfte im Sinne von Marktwirtschaft sind, sondern Kapitalmaximierung im Sinne eines Steigerungszwangs, dessen Grundvoraussetzung Schnelligkeit und technische Beschleunigung ist: Wer zuerst da ist, mahlt zuerst.

Wachstum für den Status quo
Gewinnmaximierung ist also die Triebfeder des Kapitalismus – das sollte allerspätestens seit der Finanzkrise 2008 deutlich geworden sein. Allerdings vermutet Hartmut Rosa dahinter weniger die Geldgier, als nackte Angst. Denn die Dynamisierung sei systemimmanent und ein knackiger Systemfehler: Die permanente Steigerung und Beschleunigung ist notwendig, um den Status quo zu erhalten. Rosa sagt:

„Damit wir bleiben, wie wir sind, müssen wir jedes Jahr schneller laufen.“

Das Grundversprechen der Moderne, Konkurrenzkampf und Knappheit zu überwinden, um selbstbestimmt in Freiheit leben zu können, unterläuft der Kapitalismus geschickt. Denn ein Ende der Steigerung – das größtmögliche Wachstum – ist nie erreicht. Die Beschleunigung läuft auf keinen Zielpunkt zu, sie ist Mittel zum Zweck. Hartmut Rosa bezeichnet das als dynamische Stabilisierung.

Die Verhältnisse zum Tanzen bringen
Dabei weist er ausdrücklich darauf hin, dass Dynamisierung per se nicht schlecht ist, sondern entwicklungshistorisch gut und wichtig. Problematisch sei Dynamisierung im Sinne permanenten Wachstums, das sich stets aufs Neue in einem „Prozess der Landnahme“ (Stephan Lessenich) neue Märkte, Länder und Lebensstile einverleibt. Der Mensch und seine Lebenszeit gerieren in diesem Kontext zur Ressource, die in politisch-ökonomischer Perspektive zu aktivieren ist. Dies geschieht gleichsam mit anderen Lebens- und Gesellschaftsbereichen, wie Politik und Bildung, die nur noch als Dienstleister der Ökonomie fungieren. Rosa definiert:

„Also kann man sagen, Kapitalismus bedeutet das immer schnellere In-Bewegung-Setzen der materiellen, sozialen und der geistigen Welt. Wir bringen die Verhältnisse zum Tanzen.“

Nackte Angst und keine Utopie
Was Hartmut Rosa hier auf Karl Marx verweisend als Tanzen bezeichnet, ließe sich heute treffender durch die Formulierung des „Sich-Drehens“ – im Tanzen – ersetzen, das In-Bewegung-Bleiben meint, um nicht abgehängt zu werden – das gilt für Personen und Unternehmen gleichermaßen. Hier ist sie wieder, die Angst, die sich „psychisch“ total auswirkt.

Wenn man die Thesen Hartmut Rosas aus seinem Vortrag zusammenfasst, ließe sich in etwa folgendes formulieren:

Wo der Kapitalismus alle Bevölkerungsgruppen und Lebensbereiche erfasst, um sie zum immer schnellerem „Drehen“ zu bringen, ist ziellose Beschleunigung als Grundvoraussetzung von Wirtschaftswachstum lediglich die Dynamisierung des Augenblicks – des Hier und Jetzt. Ebenso wie man beim „Sich-Drehen“ an einem Ort verbleibt, egal wie viel Energie man dabei aufwendet und sich erschöpft, hat Zukunft dort keinen Platz, wo alles bleiben soll, wie es ist – erst recht nicht, wenn Stabilität immer mehr Beschleunigung und Zeitaufwand benötigt.

Ein Ort, der nicht ist
Hartmut Rosa spricht von Desynchronisation, wo einige Bereiche nicht derart problemlos dynamisierungs- und steigerungsfähig sind, etwa die Realökonomie gegenüber der Finanzökonomie oder die Demokratie, Ökologie und Psyche des Menschen gegenüber der Ökonomie. All diese Dinge benötigen Zeit, jenen „knappsten Rohstoff“, der vor allem Lebenszeit ist.

OLYMPUS DIGITAL CAMERAAuch in diesem Sinne ist Zukunftsdenken deplatziert, denn Nachhaltigkeit ist zeitaufwendig. Und wo ein Blick in die Zukunft schwer realisierbar ist, muss Utopie ein Hirngespinst sein oder das, was sie ihrer Wortherkunft tatsächlich ist: kein Ort, nirgends. Erst recht, wenn für solche Vorstellungsräume gar keine Zeit bleibt, weil man Zeit seines Lebens damit beschäftigt sein wird, finanziell und sozial hinterherzukommen, mitzuhalten und nicht abgehängt zu werden. Die Angst ist groß – alles andere wiegt dagegen wenig.

Was bedeutet das für den 1. Mai?
Die Utopie von der Befreiung des Proletariats und die Arbeiterbewegung an sich waren von Beginn an kollektiv: Gleiche Interessen, gleiche Forderungen, die verbunden haben. In einer pluralistischen Gesellschaft, in der es viele unterschiedliche Arten von Arbeitsverhältnissen gibt, mag das schwieriger sein. Aber mit Blick an die Ränder, wo das große Aussieben und politisch verantwortete Herumwursteln stattfindet, gibt es auch heute noch genügend Potenzial für Kollektivinteressen – von den vielen anderen einmal abgesehen, genannt sei hier nur beispielhaft der NSA-Überwachungsskandal.

Wer seine Ressourcen nicht ausschöpft und sich nicht effizienter macht für das „Steigerungsspiel“, gerät beim Drehen leicht ins Trudeln – oder schlimmer, er dreht sich erst gar nicht. Wo Selbstoptimierung, Selbstmanagement und permanente Flexibilität zwingender Bestandteil eines Spiels sind, werden Freiheitsressourcen, wie Rosa das nennt, wieder eingezogen. Das Leben wird zum „Instrument im ökonomischen Existenzkampf“.

Wer daran nicht teilnimmt oder „ausgeschieden ist“ und seine Lebenszeit vermeintlich nicht opfert, um mitzuhalten, macht sich verdächtig. Dann tauchen schnell Begriffe, wie „soziale Hängematte“ oder „spätrömische Dekadenz“ auf. Zeit als den kostbarsten Rohstoff gönnt man niemand anderem gern.
Und so werden wir wohl leider lang und vergeblich darauf warten, dass ein Heer von Arbeitslosen, Aufstockern und Niedriglohnverdienern, die ihre Situation unerträglich finden und trotz mühevoller Anstrengungen auf der Stelle treten, ihre Rechte als BürgerInnen in der Öffentlichkeit  einfordern. Zu groß ist die Scham und das Stigma von „Hartz IV“ und „prekärer Vollerwerbsarbeit“, wie eine Studie des Jenaer Soziologen Klaus Dörre belegt (1), der gemeinsam mit Hartmut Rosa und Stephan Lessenich das „Kolleg Postwachstumsgesellschaften“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena ins Leben gerufen hat.

Und ebenso lange und vergeblich werden wir darauf warten, dass dies einmal am 1. Mai geschieht, dem „Tag der Arbeit“. Da hilft vermutlich auch kein ZEIT-Artikel von 2013, der den „Adel der Arbeitslosigkeit“ ausrufen will – so engagiert das auch sein mag.

Die Möglichkeit kollektiver Utopie-Entwürfe schwindet dort, wo Menschen auf sich selbst verwiesen sind, auf ihre Probleme und ihren „ökonomischen Existenzkampf“, der unmittelbar hier und jetzt spielt. Nicht morgen oder übermorgen. Zukunft hat im endlosen Steigerungsspiel des Kapitalismus ihre Bedeutung verloren.

 

 

Verweise:

(1) Prof. Dr. Klaus Dörre u.a.: „Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik“. Campus Verlag 2013.

 

Weiterführende Links:

Bei MDR-Figaro zum Nachhören: „Hat sich der Kapitalismus totgesiegt?“, Vortrag von Prof. Dr. Hartmut Rosa

Prof. Dr. Stephan Lessenich, Prof. Dr. Hartmut Rosa, Prof. Dr. Klaus Dörre u.a. „Kolleg Postwachstumsgesellschaften“ an der FSU Jena

Zurückgeschaut: „Buffalo 66“ von Vincent Gallo (1998)

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buffalo-66-162757lDer Schauspieler, Musiker, Fotograf und Künstler Vincent Gallo debütierte 1998 mit „Buffalo 66“ als Regisseur. Er selbst übernahm die Hauptrolle und setzte Christina Ricci als Co-Partnerin an seine Seite. Gemeinsam spielen sie ein Paar wider Willen, das sich nicht eigenwilliger hätte finden können.

Billy Brown, der 10.000 Dollar bei einer Sportwette verloren hat, geht als Schuldner für das Vergehen eines anderen ins Gefängnis. Fünf Jahre später wird er entlassen und beschließt, den Footballspieler der Buffalo Bills zu erschießen, der damals den Fieldgoal vergeigt und ihn damit um seinen Wettgewinn gebracht hat. Um aber zunächst beim Besuch seiner Eltern zu glänzen und das Lügengebäude der letzten Jahre aufrecht zu halten, er sei erfolgreich und verheiratet, entführt er kurzerhand und goldrichtig, wie sich herausstellen wird, die Tanzschülerin Layla (Christina Ricci). Sie muss sich als seine Ehefrau ausgeben.

buffalo66259371lErscheint Billy bis dahin bereits als neurotischer, unnahbarer und exzentrischer Charakter mit roten Lederstiefeln, setzt der Besuch bei seinen Eltern dem ganzen die Krone auf. Nicht nur, dass ihm die Buffalo Bills fünf Jahre seines Lebens gekostet haben. Sein gesamtes Leben reduziert sich auf die Footballmannschaft und mithin den Moment seiner Geburt 1966, „Buffalo 66“, als seine Mutter, fanatischer Fan, die Buffalo Bills beim Superbowl nicht anfeuern konnte und sie verloren – natürlich trägt Billy die Schuld.

Die leeren Straßen von Buffalo, die nackten Häuserfronten und insgesamt karg wirkenden Bilder mit den kühlen, zurückgenommenen Farben, spiegeln Billy Browns zwangsneurotische, von unbewältigten Schuldgefühlen geprägte Einsamkeit deutlich wider – wunderbar zerrissen und grüblerisch gespielt von Vincent Gallo. Er erträgt keine Nähe und stößt Layla grob von sich, die er erst zwingt bei ihm zu bleiben und die schließlich selbst nicht gehen möchte. Christina Ricci spielt dieses junge, etwas naive, aber ganz und gar gutherzige Mädchen mit den glitzernden Tanzschuhen, als könnte sie alles für Billy Brown sein. Sie verliebt sich in diesen eigenartigen jungen Mann, der in der Badewanne wie ein kleiner Junge aussieht – zornig, verkrampft, trostlos.

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Die Eltern (Anjelica Huston, Ben Gazzara), die nur ein einziges Kinderfoto von Billy besitzen; Billys zwanghafte Unnahbarkeit, deren Grenzen in einer Fotokabine mit Layla arg strapaziert wird; sein schwerfälliger Freund Gorilla (Kevin Corrigan) oder Laylas naive Versuche, Billy vor seinen Eltern als CIA-Agent in ausgezeichnetem Licht strahlen zu lassen: All das erzeugt grotesk-komische Momente, die das Grundthema der allgemeinen Trostlosigkeit angenehm konterkarieren und das Drama zum Leuchten bringen.

Über Umwege, wie einem geplanten und doch wieder verworfenen Mord, dem Besuch in der Bowlinghalle, wo Billy Bowlingerfolge feierte und sich anerkannt fühlt, und einem schäbigen Hotelzimmer, gelangt „Buffalo 66“ in dieser hinreißenden Manier zwischen melancholischer Absurdität und Komik zu einem versöhnlichen Ende – für die Hauptfiguren ebenso wie für den Zuschauer.

Nicht zu vergessen: Der Film wird begleitet von Liedern, die Vincent Gallo selbst komponiert, geschrieben und gesungen hat. Damit geriert „Buffalo 66“ zu einem kleinen Gesamtkunstwerk, das sich sehen lassen kann und mit einfachen erzählerischen Mitteln und Bildkompositionen mehr erreicht, als manch anderer, aufwendig inszenierter Film.

Leipziger Buchmesse 2014 – Von Bücherdämmerung, diversen Lebensformen und Igor im dunklen Zimmer

OLYMPUS DIGITAL CAMERAEs ist Bücherfrühling in Leipzig. Vom 13. bis 16. März 2014 haben Bücherfreunde die Gelegenheit, sich neuen Stoff zu besorgen – Lesestoff natürlich. Die Neuerscheinungen sind zahlreich und nahezu unübersichtlich. Wer von Verlag zu Verlag schlendert fühlt sich bald erschlagen von der Vielfalt der Sortimente. Gut beraten ist, wer ein Lieblingsgenre, Lieblingsautoren oder Lieblingsvorträge auskundschaftet und sich zielorientiert durch die Menschen- und Büchermassen gräbt. Aber auch Medien und Moderatoren helfen aus und sortieren: Blaues Sofa, MDR, 3Sat, Deutschlandradio oder ARTE sind stets verlässliche Anlaufstellen für den Reizüberfluteten.

In den vergangenen Jahren bin ich dem Bücherrummel ferngeblieben und habe mich dem Geschmack der Redaktionen von ZEIT, 3Sat oder MDR-Figaro ergeben, die Buchmesse gemütlich im heimischen Sessel verfolgt. Dieses Jahr nun habe ich mich zum ersten Messetag nach Leipzig aufgemacht.  Der Flut der zahlreichen Neuvorstellungen von Büchern bin ich allerdings nur Herr geworden durch Beschränkung. Nach Recherche des Veranstaltungs- und des ein oder anderen Verlagsprogramms, habe ich mir drei Bücher herausgepickt, die ich in nächster Zeit ausführlich rezensieren möchte.

Ganz bewusst habe ich mich gegen die Gewinner des Leipziger Buchpreises entschieden: Saša Stanišiś mit seinem Roman „Vor dem Fest“, Helmut Lethen mit „Der Schatten des Fotografen“ in der Kategorie Sachbuch und Essayistik und Robin Detje mit seiner Übertragung von William T. Vollmans „Europe Central“. Diese Bücher werden sicherlich an anderer Stelle nicht nur eingehender, sondern auch mehrfach besprochen.

Stattdessen möchte ich hier drei andere Bücher vorstellen, die ebenfalls im Rahmen der Buchmesse vorgestellt worden sind und die mich darüber hinaus besonders neugierig gemacht haben:

 

BücherdämmerungDas ist als erstes ein Buch über das Buch selbst. Gemeinsam mit einigen Co-Autoren denkt Detlef Bluhm, Geschäftsführer im Börsenverein des Deutschen Buchhandels, „über die Zukunft der Buchkultur“ nach. Das Buch als Format steht seit langem nicht nur in Konkurrenz zu anderen Medienformanten, wie dem Fernsehen, speziell Fernsehserien, oder dem Internet, sondern immer mehr auch zu seinem heranwachsenden Bruder, dem E-Book. Die lebhafte Diskussion am 13. März im „Berliner Zimmer“ mit den Autoren Detlef Bluhm, Stephan Selle, Elisabeth Ruge, Volker Oppmann, Katja Splichal und dem Publikum hat mehr als deutlich gemacht, wie spannend die aktuellen Entwicklungen in der Buchbranche sind und wie emotional aufgeladen die Debatte zum Teil ist. Auf der einen Seite: Bücherliebhaber, die das haptische Erlebnis favorisieren und eine starke Bindung zum Gebrauchsgegenstand Buch suchen und eingehen. Auf der anderen Seite: Neugierige Visionäre, die unendlich viele Möglichkeiten in der interaktiven Nutzung des Buches oder präziser des Textes sehen – losgelöst von seiner Form. Das Thema ist brisant und dringend. Es reflektiert die durch eine neue Technik angestoßenen Umwälzprozesse im Verlagswesen und Buchhandel, die nun bereits seit einigen Jahren anhalten, aber noch weitgehend unbesprochen sind. Und dass über diese neue „Bücherdämmerung“ diskutiert und verhandelt werden muss, hat die Vorstellung des Buches „Bücherdämmerung. Über die Zukunft der Buchkultur“, druckfrisch am 12. März erschienen, deutlich gezeigt und damit erfolgreich auf sich selbst verwiesen.

 

Der unsichtbare ApfelEin ganz anderes Buch ist „Der unsichtbare Apfel“, ebenfalls druckfrisch in diesem Monat erschienen. Nicht nur, dass es ein Roman ist. Es ist auch ein Debüt. Es ist das schriftstellerische Erstlingswerk von Robert Gwisdek, Schauspieler, Sänger, Texter, Möbelmacher und Wanderer. Mit der Hauptfigur Igor, so verspricht es der Klappentext, gerät der Leser auf eine surreale Selbstfindungsreise. Er versteht die Welt nicht und die Welt ihn nicht. So begibt er sich für 100 Tage in einen abgedunkelten und schalldichten Raum. Was ihm dort begegnet, jenseits der Grenzen der Vernunft, verrät der Kiwi-Verlag leider nicht. Natürlich nicht.

 

 

 

Jaeggi_LebensformenAls drittes, um den Bogen komplett zu machen, habe ich mir die philosophische „Kritik von Lebensformen“ von Rahel Jaeggi herausgepickt. Das Buch ist zwar bereits im Dezember 2013 erschienen, passt zeitlich aber noch prima in den Bücherfrühling. Die Autorin, Philosophin und Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin, geht der Frage nach, ob Lebensformen in einem liberalen Rechtsstaat kritisiert werden dürfen oder nicht. Das ist nun ein sehr spannendes Thema, da sich natürlich, so behaupte ich, jeder Mensch selbst einmal im Leben die Frage stellen wird, ob seine Art zu leben, sei es – pointiert gesagt – als Vollzeitmama oder Vollzeitjobber, ob seine Lebensweise determiniert oder tatsächlich selbstgewählt ist, und weiter, ob man andere Lebensentwürfe als das akzeptiert, was sie sind, oder lediglich den eigenen als wertig betrachtet. Dass Lebensformen durchaus kritisierbar sind, da sie keineswegs „reine Geschmackssache“, sondern ein „Bündel sozialer Praktiken“ sind, erklärte die Philosophin im Januar der österreichischen Zeitung „dieStandard“ in einem Interview. Welche Thesen sie genau anbringt und wie sie diese belegt, bleibt in ihrem Buch nachzulesen.

Brigitte Reimann (1933-1972): „Ich bereue wenig von dem, was ich getan, aber viel von dem, was ich gelassen habe“

Als Brigitte Reimann 1947 an Kinderlähmung erkrankt und sechs einsame Woche im Krankenhaus verbringt, bleibt nicht nur ein leichtes Hinken zurück, sondern auch der Entschluss, zu schreiben:

„Ich habe große Pläne. Wir haben über meinen Beruf gesprochen, und ich will gerne Schriftsteller werden, aber nicht nur nebenbei, sondern als Hauptberuf.“

Sie schreibt Laienspiele und erste Erzählungen, will studieren, gibt es aber wieder auf. Sie gewinnt einen Preis, wird entdeckt und in die Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren des Deutschen Schriftstellerverbandes Magdeburg aufgenommen. Da ist sie gerade mal zwanzig Jahre alt. Nur wenige Jahre später folgen die ersten Buchveröffentlichungen und bald darauf die ersten Preise.

„Ich bereue wenig von dem, was ich getan, aber viel von dem, was ich gelassen habe.“ Das schreibt Brigitte Reimann 1950, noch ein halbes Kind. Aber in diesem Satz blitzt jene Unbedingtheit auf, die sie vom Leben für sich eingefordert hat. Sie ist impulsiv, lebensmutig und energisch. Sie ist viermal verheiratet und verliebt sich immer und immer wieder aufs Neue in Männer. Sie hat Männerliebschaften in Verlags- und Schriftstellerkreisen – keine Affären. Sie trinkt und raucht, diskutiert leidenschaftlich, glaubt an die Idee des Sozialismus und schreibt darüber mit moralischer Festigkeit: „die Menschen um uns haben ein Recht, sich in unseren Büchern wiederzufinden.“

Mit der Zeit wachsen ihre Zweifel ebenso, wie ihr Körper unter ihrem exzessiven Lebens- und Schreibstil zu leiden scheint. Sie schwankt zwischen Euphorie und Depressionen, Freude und Herz- oder gar Ohnmachtsanfällen. Lebensfrohe Textpassagen in ihren Tagebüchern stehen solchen gegenüber, die zutiefst von Zweifeln geprägt sind:

„Manchmal denke ich darüber nach, wie oft ich geliebt habe, wie oft ich geliebt wurde, ich habe ein wunderschönes Leben, ich bedauere nichts.“

Und an anderer Stelle:

„Ich habe zu früh Erfolg gehabt, den falschen Mann geheiratet, in den falschen Kreisen verkehrt; ich habe zu vielen Männern gefallen und an zu vielen Gefallen gefunden“.

Sie wird früh sterben, das mutmaßt sie bereits etliche Jahre vor ihrer Krebserkrankung, die ihren Körper aufzehrt. Bis zum Schluss schreibt sie an ihrem „Franziska“-Roman und liebt die Männer. Sie will leben, „nichts weiter als leben, sei’s unter verrückten Schmerzen, aber auf der Welt sein.“

Drei Vorstellungen der Brigitte Reimann

Das Leben von Brigitte Reimann liest sich fast wie ein Roman: Jung geheiratet, jung Erfolg gehabt, viele Männer geliebt und manchmal auch geheiratet, und trotz heftiger Kritik und aufreibender Diskussionen nahezu alle Literaturpreise der DDR erhalten.

 

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Ebenso spannend, wie ihr Leben, liest sich die Biografie „Einfach wirklich leben“ von Dorothea von Törne. Die lässt der emsigen Tagebuchschreiberin genügend Freiraum, um selbst zu Wort zu kommen, flicht Passagen aus Briefen, Tagebüchern und Erzählungen ein. Dorothea von Törne kommentiert und ergänzt lediglich, wo es notwendig scheint und stellt den Aussagen der Reimann hier und da auch solche ihrer Familie und Schriftstellerkollegen gegenüber, wie zum Beispiel von Christa Wolf. Auf diese Weise entsteht ein umfassendes Bild der jung verstorbenen DDR-Schriftstellerin, der ihr gerecht zu werden scheint.

 

Hunger auf Leben

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Anders verhält sich das mit der biografischen Verfilmung „Hunger auf Leben“ von Markus Imboden (Regie), die hier der Vollständigkeit halber erwähnt werden soll. Die größten Schwächen entstehen hier wohl aus der Kürze des Films. Vieles aus Brigitte Reimanns Biografie ist zum Beispiel weggelassen worden, worunter die Logik der Handlung an einigen Stellen leidet. Zugute halten muss man jedoch die schauspielerische Leistung von Martina Gedeck, in deren Spiel jene Zerrissenheit der Reimann zum Ausdruck kommt, unter der sie zeitlebens litt und die sie durch das Schreiben zu kanalisieren suchte.

 

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Auch die Hörspielcollage „Ich bin so gierig nach Leben“, kann dieses Bild von der zeitlebens zwischen Lebensübermut und Zweifeln schwankenden Brigitte Reimann ausdrucksstark umsetzen. Mit Textpassagen aus den Tagebüchern und quer dazu gelesenen Passagen aus dem Fragment gebliebenen und biografisch anmutenden Roman „Franziska Linkerhand“, gesprochen von Renan Demirkan und Winnie Böwe, entsteht ein besonders eindrückliches Bild der Frau und Schriftstellerin Brigitte Reimann. Untermalt von ruhigen Jazzklängen und Schreibmaschinengeklapper, spürt der Hörer ihrem Lebensentwurf nach, in dem Lebenserfahrung und Schreiben ineinanderfließen und untrennbar miteinander verschmelzen. Ihr Schreiben ist stets Leben, ihr Leben stets Schreiben.

 

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Deshalb möchte ich zum Schluss auf Brigitte Reimanns Tagebücher verweisen, aus denen all die genannten Darstellungen und Biografien über sie zehren. Sie sind 1997 und 1998 in zwei Bänden von Angela Drescher im Aufbau-Verlag unter den Titeln „Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-63“ und „Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-70“ herausgegeben worden.

Sie erzählen nicht nur hautnah aus dem Leben der Ehefrau, Liebhaberin und Schriftstellerin Brigitte Reimann, sondern auch aus dem Alltag in der DDR, der einengenden Kulturpolitik, den Schriftstellerkongressen, den Verhältnissen im Betrieb „Schwarze Pumpe“, der Wohnungsnot und den sozialistischen Bauprojekten in Hoyerswerda, die sie schließlich in ihrem „Franziska“-Roman verarbeitet. Dieses kulturgeschichtliche Bild der DDR durch das Auge Brigitte Reimanns ist somit auch für all jene im besonderen Maße lesenswert, die weniger an der Schriftstellerin denn der Alltagsgeschichte der DDR interessiert sind.

Zurückgeschaut: „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920)

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Als „Das Cabinet des Dr. Caligari“ im Februar 1920 Premiere hatte, waren noch lange nicht die Wogen eines Krieges geglättet, während sich in der Ferne bereits ein weiterer zusammenbraute. Nichts ist, wie es scheint. Wo sich Normalität neu konstituiert, geht in der Dunkelheit das Grauen um.

CABINETOFDRCALIGARI-posterDass etwas nicht stimmt in diesem Film, wird bereits mit den schiefen und befremdlich angemalten Kulissen deutlich, in denen sich die Figuren bewegen. Vergeblich sucht der Zuschauer eine gerade Linie, die Häuser neigen sich und kippen, gehorchen keiner bekannten Ordnung. Was aus Kostengründen expressionistisch bemaltes Sperrholz und Pappmachee ist, entwickelt im Film selbst eine bedrückend surreale Stimmung. Die Grundthemen Angst, Wahnsinn und Machtmissbrauch könnten nicht merklicher in Szene gesetzt sein.

Die eigentliche Handlung beginnt mit einem Jahrmarkt, den die Freunde Franzis und Alan besuchen und dort das Cabinet des Dr. Caligari. Der stellt einen Somnambulen, einen Schlafwandler namens Cesare aus, der nur seinem Willen gehorcht und die Zukunft vorhersagen kann. Dass der Mörder, der in dem Städtchen Holstenwall nachts sein Unwesen treibt, auf unheimliche Art mit Dr. Caligari verknüpft ist, erkennt Franzis erst, als es zu spät ist, Alan ermordet und seine Verlobte Jane von dem Mörder entführt ist.

Er entdeckt bestürzt, dass Dr. Caligari tatsächlich Direktor einer Irrenanstalt ist und, in den Wahnsinn getrieben, einen somnambulen Patienten missbraucht, um mit ihm als Werkzeug unbemerkt Morde zu begehen. Doch wird diese Binnenhandlung durch eine Rahmenhandlung in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht der Direktor ist wahnsinnig, sondern alle anderen Figuren. Franzis, Jane und auch Cesare sind Insassen jener Irrenanstalt. Die Welt scheint ganz und gar surreal verzerrt.

Siegfried Kracauer sah in Dr. Caligari Adolf Hitler antizipiert und mithin den Massenwahn. Doch man muss gar nicht derart weit ausgreifen, um die Wirkung des Filmes historisch einzuordnen. Die Angst und der Schrecken, die unter der Oberfläche brodeln, verweisen zurück auf die Traumata des Ersten Weltkrieges, die brutale Zerstörungswut und die seelischen wie psychischen Wunden, die sie in den Menschen geschlagen hat. Man denke nur an den marionettenhaft-spinnbeinigen Cesare, der, seine willenlos begangenen Verbrechen erkennend, in wildes Taumeln gerät und auf einem Feld wie tot niederstürzt.

Doch kann man ebenso gut den Begriff der Moderne hineindenken, Freuds Psychoanalyse und die technologische Beschleunigung zu Beginn des Jahrhunderts, für die sowohl der Erste Weltkrieg als auch das Kino selbst Ausdruck ist. Hingegen die grotesken und mystischen Züge, das Motiv des Schlafwandlers, ein Rückgriff in die Romantik à la E.T.A. Hoffmann, das intensive Licht- und Schattenspiel, die surrealen Kulissen, die jedem Realismus zuwiderlaufen, und das ausdrucksstarke Spiel der Darsteller, allen voran Friedrich Feher und Conrad Veidt, weisen „Das Cabinet des Dr. Caligari“ als Paradebeispiel des expressionistischen Films aus.

Diesem eigentümlichen Stil ist es zu verdanken, dass Robert Wienes Film nicht nur das deutsche Kino schlagartig in der Welt bekannt machte, sondern „Das Cabinet des Dr. Caligari“ auch Filmgeschichte schrieb. Fast 100 Jahre später, am 9. Februar 2014 wurde im Rahmen der Berlinale eine von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung digital restaurierte Fassung des Films gezeigt, musikalisch auf der Orgel begleitet von Multi-Instrumentalist John Zorn.  Am 12. Februar 2014 lief „Das Cabinet des Dr. Caligari“ erstmals im Fernsehen auf ARTE.

Wiedergelesen: „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz (1958)

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Jeder kennt es, jeder hat es durchgemacht: Pflichtlektüre im Deutschunterricht. „Nackt unter Wölfen“ stand ganz oben auf dieser Liste und als Schülerin habe ich mich mit dem Roman sehr gequält. Heute kann ich das nur schwer nachvollziehen, da das Buch derartig auf sein Ende hin motiviert ist, dass es sich, trotz seines Themas, spannend wie ein Thriller liest. Die Sprache ist glasklar, beinah sachlich. Nur in Momenten, in denen die Figuren an ihre existenziellen Grenzen stoßen, springt sie in expressiver Metaphorik nach außen und dem Leser ins Gemüt. Das liest sich alles andere als zäh und langweilig. 

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Kilometerweit getragen, gelangt ein zerschlissener Koffer ins Lager Buchenwald und in dem Koffer ein dreijähriges Kind, das, in Gefangenschaft geboren, keine Menschen kennt, nur Häftlinge und SS, Vertrauen und Verstecken. Als schutzbedürftiges Kleinod wandert es, nach kurzem Zögern, zwischen den Häftlingen hin und her und wird ausgerechnet dort zum Symbol des Menschseins, wo das Menschsein ausgelöscht werden soll, gibt den Insassen Mut, wo die Lagerkommandatur mit nahendem Kriegsende immer unberechenbarer wird: „Ist es nicht im Grunde unser aller Kind“? Tag um Tag schrumpft das Nadelöhr Buchenwald, durch das die Figuren unversehrt zu schlüpfen hoffen, seien es Häftlinge, wie Höfel, Kropinski und Pippig oder die SS-Wächter Schwahl, Reineboth und Zweiling, die in neurotischer Borniertheit ihr Werk vollenden, der kommunistischen Widerstandsgruppe ILK auf die Schliche kommen, aber dennoch alle Spuren der Vernichtung verwischen wollen – bis die Situation schließlich kollabiert: „Einer Nußschale gleich schaukelte das Kind über den wogenden Köpfen. Im Gestau quirlte es durch die Enge des Tores, und dann riß es der Strom auf seinen befreiten Wellen mit sich dahin, der nicht mehr zu halten war.“

 

Passend zum Buch: Die gleichnamige und gleichsam zeitlose Verfilmung des Romans von Frank Beyer (1963) mit Armin Müller-Stahl und Erwin Geschonneck in den Hauptrollen …

„Am Beispiel meines Bruders“ von Uwe Timm (2003)

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Der Autor, ein Kind des Zweiten Weltkriegs, gehört zu einer Generation von Männern und Frauen, die diesen Krieg und seine Zusammenhänge nahezu unbewusst erlebten, aus der Sicht eines Kindes: unfassbar das Ganze, nur im begrenzten Raum auf winzige Erfahrungen beschränkt und im Nachhinein erkennbar sich ausdrückend im Handeln und Denken jenes ersten, engsten Lebenskreises: der Familie.

Uwe TimmUwe Timm erinnert sich in diesem Buch an seinen 1943 im Krieg verwundeten und verstorbenen Bruder Karl-Heinz: mittels Erinnerungsfetzen des damals zwei- bzw. dreijährigen Jungen Uwe, aus Erzählungen der Eltern; anhand von Fotos, der Tagebuchaufzeichnungen und den Briefen des Bruders nach Hause. Er zitiert aus diesen, streut Gedanken über Fotos ein, die er betrachtet oder über die vom Bruder gebliebenen, in einem Kästchen verstauten Dinge, und stellt Überlegungen an. Im Zuge dieses gedanklichen „Zurückkehrens“ entwickelt Timm eine Art totaler Wahrnehmung: er sieht, riecht und schmeckt seine Kindheit, fühlt dem Händedruck seiner Mutter nach und beobachtet, erinnert genau, lauert und forscht in dieser, seiner Vergangenheit, und schreibt sie nieder. Jene Zeit, in der geschwiegen wurde, Augen geschlossen wurden und das Vergessen jegliche Erinnerung ersticken sollte.

Es ist, natürlich, die Frage nach der (Mit-)Schuld: des Bruders und auch der Familie, die sich zu entspinnen beginnt und ausgreift in den kritischen Blick auf eine Generation, die zugleich Vätergeneration ist. Familienkonflikte werden auf die durch einen Krieg und ein Gewaltregime geprägte Gesellschaft übertragen. Ein Wechselspiel entfaltet sich, das in den Gedanken des Autors hin und her geschoben, neu verbunden und verknüpft wird, ohne den Blick auf jenen Menschen zu verlieren, dessen Ergründung augenscheinlich Ziel und Aufgabe des Buches ist. Dabei wird das Erinnern und vor allem das Schreiben für den Autor quasi zur körperlichen Anstrengung: Es geht nahe. „Der Bruder und ich.“ – Uwe Timm verarbeitet in diesem Buch auch ein Stück von sich selbst, spürt dem Vergangenen rücksichtslos nach.

„Am Beispiel meines Bruders“ fragt in besonderer Weise nach den Menschen, ihren Reaktionen, ihrem Verhalten und auch ihren Gefühlen. Es mag in jener breiten Sparte über das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg oder den Nationalsozialismus nur ein weiteres Buch sein. Doch liefert gerade Timms literarische Auseinandersetzung eine weitere, wenn nicht gar andere Perspektive, sich dieser Thematik zu nähern. Aus der Sicht eines Kindes wird auf einen „unfassbaren“ Bruder geblickt; erinnert sich ein Mann, der scharf und erbarmungslos seiner Familie auf den Zahn fühlt. Er dreht und wendet jedes Detail, besieht, befühlt und erfasst bewusst alles von neuem, so dass ein Erinnerungsband entstanden ist, der händeringend nach Verstehen sucht und letztlich auch Bekenntnis ist.

„Commedia dell‘ arte. Struktur – Geschichte – Rezeption“ von Henning Mehnert (2003)

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Reclam-Büchlein nehme ich immer wieder gern zur Hand, ob belletristische Klassiker oder Überblicke zu literarischen Epochen und Gattungen. Sie sind handlich und bieten als kleines Format reichlich Inhalt. Wie zum Beispiel Henning Mehnerts „Commedia dell’arte. Struktur – Geschichte – Rezeption“.

Commedia dell arteAuf dieses Büchlein bin ich aus reiner Neugierde gestoßen, weil ich mehr erfahren wollte über die Commedia dell’arte, auf die ich insbesondere durch E.T.A. Hoffmanns „Phantasiestücke in Callots Manier“ gekommen bin, über die ich bisher aber nur Vages zu sagen wusste.

Henning Mehnert, Romanist und Altphilologe, bietet in essayistischer Manier einen informationsreichen Überblick zu dem volkstümlichen Improvisationstheater, das im 16. Jahrhundert in Italien entstanden ist. Beginnend mit der sogenannten „Narrentreppe“ auf Burg Trausnitz, eine „durch den ganzen Bau führende Wendeltreppe […] mit Grotesken und Szenen aus der Commedia dell’arte“, setzt er mitten in deren Geschichte ein und dem wohl ersten Auftreten einer solchen Theatergruppe in Deutschland.

Von dort ist es kein weiter Weg zurück zum Entstehungsort Italien, der ersten Schauspielgruppe „Compagnie di Maffio“ 1545 in Padua und den vielen anderen, die im 17. Jahrhundert allmählich auch ins Ausland wandern, Moliere, Shakespeare und Gryphius beeinflussen.

Von den Grundmasken und den typischen Figuren, Pantalone, Dottore, Zani, Arlecchino und so weiter, ihrer Ausstattung und den Mitteln der Commedia dell’arte, ob „lazzi“, „burle“, „scenari“, „zibaldone“ oder „tirate“, ob grobe Scherze, Aktionskomik, Akrobatik oder groteske Mimik und Gestik, geht es zu ihrem Niedergang durch Goldonis Theaterreform im 18. Jahrhundert und ihrem Aufleben in der Rezeption, sei es in Frankreich, Spanien oder Russland,  den Hanswurstiaden in Österreich oder dem Lustspiel in Deutschland.

Das liest sich alles locker und leicht, ist angereichert mit vielen Textbeispielen und italienischen Ausdrücken, die zu keinem Zeitpunkt zu viel oder anstrengend wirken. Im Gegenteil, als Leser findet man sich dadurch erst richtig hinein in die über 500 Jahre alte literarische Gattung, entwickelt ein Gefühl für ihre Merkmale und ihr Wesen.

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Ein besonderes Plus ist deshalb der umfangreiche Anhang: Farbtafeln mit Abbildungen einiger Charaktermasken sowie nochmals zahlreiche Textbeispiele, wie das von Massimo Troiano, jenen ersten ausführlichen Bericht von 1568 über die Aufführung einer Commedia dell’arte.

Dieses Büchlein ist jedem Schüler, Studenten und Interessierten empfohlen, dem Wikipedia nicht genügt und wissenschaftliche Abhandlungen zu umfangreich sind. Wer dann immer noch weiterlesen möchte, dem empfiehlt Henning Mehnert am Rande immer wieder interessante Lektüre, die tiefer in die Commedia dell’arte führt.

„Ich möchte lieber nicht“

Bartleby the Scrivener (1853) von Hermann Melville

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BartlebyVom stummen fleißigen Bienchen zum verträumten Mauerblinzler:  Ich möchte lieber nicht, quittiert der Aktenkopist Bartleby alle an ihn herangetragenen Fragen und Aufgaben, treibt seinen Arbeitgeber in den Wahnsinn, aus der Kanzlei und die Kanzlei aus dem Gebäude. Nüchtern, fast schläfrig trägt er sein unverschämt höfliches Sätzchen der stillen Verweigerung vor, dass an ihm jeder Widerstand zerbirst, die Welt um Bartleby herum aus dem Takt gerät, während er hinter seinem Bürowandschirm träumt, schläft, atmet und Ingwernüsse knabbert. Ich habe das Kopieren aufgegeben – Kündigung? Bewerbungen? Neue Stellung? Miete? Konsum? Bankenrettung? NSA-Überwachung? Klimawandel?

– Ach, ich möchte lieber nicht.

„Der Hobbit“ (2012-2014)

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Zugegeben, es wird einer Trilogie nicht wirklich gerecht, sie nur knappestmöglich in wenigen Sätzen zu rezensieren. Tatsache ist allerdings, dass die drei Hobbit-Filme binnen drei Jahren in den Kinos anlaufen. Eine ausführliche Rezension lohnt meines Erachtens demnach erst, wenn das Puzzle komplett ist – das ist im Dezember 2014. Bis dahin gibt’s hier KURZ GEFASST sechs kritische Sätzchen zu Der Hobbit – Eine unerwartete Reise und Der Hobbit – Smaugs Einöde.

Musste sich die „Herr der Ringe“-Filmtrilogie allein an J.R.R. Tolkiens großartigem Mittelerdeentwurf messen, ist Peter Jacksons Verfilmung selbst zum Maßstab für sein neues Vorhaben „Der Hobbit“ avanciert. Der Zuschauer achtet demnach auf die Feinheiten und jene ganz besondere Mittelerdestimmung, die Jackson in „Eine unerwartete Reise“ und „Smaugs Einöde“ mit der Zwergenaventiure  tatsächlich wieder erzeugen kann.

Das liegt nicht zuletzt an der detailverliebten  Ausstattung der Szenen und Darsteller, den sympathischen Figuren, ob bekannt oder unbekannt, und der stimmigen Musik von Howard Shore. Peter Jackson scheint alles richtig zu machen, wenn er Gut und Böse in actionreichen Szenen gegeneinander kämpfen lässt, leises Liebesgesäusel zwischen einem Zwerg und einer Elbin entwirft und Gandalfs Suche nach dem Nekromanten, die in Tolkiens Roman nur angedeutet ist, in Szene setzt und damit den „Herr der Ringe“ vorwegnimmt.

Doch es kündigt sich an, das Aber: die Kampfszenen sind oft unnötig lang gestreckt, tendieren ins Aberwitzige und, sofern aussichtslos, werden sie von Gandalf gleich einer Deus ex machina aus dem Nichts herumgerissen; solche Zufälle sind zu oft notwendig, um die Handlung voranzutreiben; andere Erzählstränge führen dagegen ins Nichts; dafür scheint stellenweise an der Figurenformung und der Logik der Dialoge gespart worden zu sein, was zum Beispiel im Gespräch zwischen „Fassreiter“ Bilbo und „Smaug dem Goldenen“ zu Buche schlägt.

Aber das sind Einzelheiten, die das Filmerlebnis in 3D nur bedingt trüben und umso mehr auf den dritten Teil verweisen, der den Gesamtentwurf komplett macht – erst dann wird sich zeigen, wieviel die Feinheiten wiegen.

… bis dahin überbrückt Ed Sheerans Schmankerl „I see Fire“ die Wartezeit: