Abgehört zum 1. Mai: „Hat sich der Kapitalismus totgesiegt?“ von Hartmut Rosa

OLYMPUS DIGITAL CAMERAAnlässlich des 1. Mai hat MDR-Figaro einen Vortrag des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa wiederholt gesendet, den er bereits am 22. Juni 2013 im Rahmen der Konferenz „Das System des Kapitalismus – Grundlagen, Dynamik und Kritik“ in Dresden gehalten hat. Die titelgebende Frage „Hat sich der Kapitalismus totgesiegt?“ lädt geradezu dazu ein, den Vortrag inhaltlich und thesenhaft auf den „Tag der Arbeit“ zu beziehen und damit spielerisch seinem Bedeutungsverlust auf den Zahn zu fühlen.

1990 erschien unter dem Titel „100 Jahre Zukunft“ ein Band über die Geschichte des 1. Mai, herausgegeben von Inge Marßolek. Der Kampf- und Feiertag, so macht es der Titel anlässlich des 100. Jahrestages deutlich, ist ohne den Begriff der Utopie nicht denkbar. Diese meint im Kontext der an sozialistischen Ideen ausgerichteten Arbeiterbewegung den zuversichtlichen und hoffnungsvollen Blick in Richtung Zukunft, der „Befreiung des Proletariats“.

Hoffnungsvoll der Sonne entgegen
Auf Plakaten war dies oft symbolisch einleuchtend die aufgehende Sonne, der die Menschen energisch entgegenlaufen. Auf ihrem Strahlenkranz prangte nicht selten der Schriftzug „1. Mai“ als froher Hoffnungstag. Nun ist das nicht allzu verwunderlich, denn der 1. Mai ist ebenfalls ein fester Brauchtumstermin, an dem – anknüpfend an Walpurgis des Vorabends – der Frühling eingeläutet wird.

So verbindet sich beispielhaft in der Sonne die Frühlingsmetaphorik der Maibräuche mit den Bestrebungen der Arbeiterbewegung, die – so viel Bildsprache sei hier gestattet – den eisigen Winter unmenschlicher Arbeitsverhältnisse in den Fabriken mit 12- bis 14-Stunden-Tagen, hoher Unfallhäufigkeit, Kinderarbeit und körperlich-geistigen Folgeschäden, zu überwinden sucht und kollektiv entsprechende Forderungen stellt, allen voran den Achtstundentag.

OLYMPUS DIGITAL CAMERADiese Möglichkeiten der Verbesserung wiesen stets auf einen Punkt, an dem sie hoffentlich einmal durchgesetzt sein werden: in die Zukunft. Und rückblickend ist das die heutige Zeit.

Kampftag der Arbeiterschaft?
Mehr als 100 Jahre nach den ersten Maidemonstrationen hat der 1. Mai seine Bedeutung als Arbeiterkampftag allerdings eingebüßt. Er ist in erster Linie Feiertag. Die Gründe dafür liegen zum Teil auf der Hand: Der Achtstundentag ist durchgesetzt und die Arbeitsbedingungen haben sich, nicht nur in der Produktion, mit fortschreitender Modernisierung und Technisierung verbessert. Was allerdings noch stärker wiegt: Die sozialistische Idee, aus der sich der 1. Mai seit seinen Anfängen gespeist hat, ist historisch gescheitert.

Andererseits finden sich mögliche Gründe im Kapitalismus selbst. Denn der 1. Mai ist seit jeher eine Reaktion auf die kapitalistischen Produktionsverhältnisse im Zuge der Industrialisierung.
Sie war seit dem späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert die Beschleunigungsphase der Moderne schlechthin – oder besser: in die Moderne. Die zahlreichen technischen Neuerungen und die Entwicklung von der Agrar- zur Industriegesellschaft sind Grundvoraussetzungen dieser „neuen Zeit“.

Totale Beschleunigung aller Lebensbereiche
Von den beschleunigten und beschleunigenden Veränderungen im Sinne gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Umstrukturierung waren alle Lebensbereiche ergriffen: Von Massenproduktion und Verstädterung bis zu Bevölkerungsexplosion und Pauperismus.

Dieser Beschleunigungsprozess findet nach wie vor statt und wir leben heute geradezu in einem „Beschleunigungstotalitarismus“. Das jedenfalls sagt Hartmut Rosa in seinem Vortrag „Hat sich der Kapitalismus totgesiegt?“. Von Totalitarismus sei dann die Rede, wenn alle Bevölkerungsgruppen und alle Lebensbereiche gleichermaßen betroffen sind, so Rosa.

Diese These des Jenaer Soziologen und Beschleunigungstheoretikers basiert auf der Feststellung, dass das Grundmotiv des Wirtschaftens im Kapitalismus gar nicht primär Tauschgeschäfte im Sinne von Marktwirtschaft sind, sondern Kapitalmaximierung im Sinne eines Steigerungszwangs, dessen Grundvoraussetzung Schnelligkeit und technische Beschleunigung ist: Wer zuerst da ist, mahlt zuerst.

Wachstum für den Status quo
Gewinnmaximierung ist also die Triebfeder des Kapitalismus – das sollte allerspätestens seit der Finanzkrise 2008 deutlich geworden sein. Allerdings vermutet Hartmut Rosa dahinter weniger die Geldgier, als nackte Angst. Denn die Dynamisierung sei systemimmanent und ein knackiger Systemfehler: Die permanente Steigerung und Beschleunigung ist notwendig, um den Status quo zu erhalten. Rosa sagt:

„Damit wir bleiben, wie wir sind, müssen wir jedes Jahr schneller laufen.“

Das Grundversprechen der Moderne, Konkurrenzkampf und Knappheit zu überwinden, um selbstbestimmt in Freiheit leben zu können, unterläuft der Kapitalismus geschickt. Denn ein Ende der Steigerung – das größtmögliche Wachstum – ist nie erreicht. Die Beschleunigung läuft auf keinen Zielpunkt zu, sie ist Mittel zum Zweck. Hartmut Rosa bezeichnet das als dynamische Stabilisierung.

Die Verhältnisse zum Tanzen bringen
Dabei weist er ausdrücklich darauf hin, dass Dynamisierung per se nicht schlecht ist, sondern entwicklungshistorisch gut und wichtig. Problematisch sei Dynamisierung im Sinne permanenten Wachstums, das sich stets aufs Neue in einem „Prozess der Landnahme“ (Stephan Lessenich) neue Märkte, Länder und Lebensstile einverleibt. Der Mensch und seine Lebenszeit gerieren in diesem Kontext zur Ressource, die in politisch-ökonomischer Perspektive zu aktivieren ist. Dies geschieht gleichsam mit anderen Lebens- und Gesellschaftsbereichen, wie Politik und Bildung, die nur noch als Dienstleister der Ökonomie fungieren. Rosa definiert:

„Also kann man sagen, Kapitalismus bedeutet das immer schnellere In-Bewegung-Setzen der materiellen, sozialen und der geistigen Welt. Wir bringen die Verhältnisse zum Tanzen.“

Nackte Angst und keine Utopie
Was Hartmut Rosa hier auf Karl Marx verweisend als Tanzen bezeichnet, ließe sich heute treffender durch die Formulierung des „Sich-Drehens“ – im Tanzen – ersetzen, das In-Bewegung-Bleiben meint, um nicht abgehängt zu werden – das gilt für Personen und Unternehmen gleichermaßen. Hier ist sie wieder, die Angst, die sich „psychisch“ total auswirkt.

Wenn man die Thesen Hartmut Rosas aus seinem Vortrag zusammenfasst, ließe sich in etwa folgendes formulieren:

Wo der Kapitalismus alle Bevölkerungsgruppen und Lebensbereiche erfasst, um sie zum immer schnellerem „Drehen“ zu bringen, ist ziellose Beschleunigung als Grundvoraussetzung von Wirtschaftswachstum lediglich die Dynamisierung des Augenblicks – des Hier und Jetzt. Ebenso wie man beim „Sich-Drehen“ an einem Ort verbleibt, egal wie viel Energie man dabei aufwendet und sich erschöpft, hat Zukunft dort keinen Platz, wo alles bleiben soll, wie es ist – erst recht nicht, wenn Stabilität immer mehr Beschleunigung und Zeitaufwand benötigt.

Ein Ort, der nicht ist
Hartmut Rosa spricht von Desynchronisation, wo einige Bereiche nicht derart problemlos dynamisierungs- und steigerungsfähig sind, etwa die Realökonomie gegenüber der Finanzökonomie oder die Demokratie, Ökologie und Psyche des Menschen gegenüber der Ökonomie. All diese Dinge benötigen Zeit, jenen „knappsten Rohstoff“, der vor allem Lebenszeit ist.

OLYMPUS DIGITAL CAMERAAuch in diesem Sinne ist Zukunftsdenken deplatziert, denn Nachhaltigkeit ist zeitaufwendig. Und wo ein Blick in die Zukunft schwer realisierbar ist, muss Utopie ein Hirngespinst sein oder das, was sie ihrer Wortherkunft tatsächlich ist: kein Ort, nirgends. Erst recht, wenn für solche Vorstellungsräume gar keine Zeit bleibt, weil man Zeit seines Lebens damit beschäftigt sein wird, finanziell und sozial hinterherzukommen, mitzuhalten und nicht abgehängt zu werden. Die Angst ist groß – alles andere wiegt dagegen wenig.

Was bedeutet das für den 1. Mai?
Die Utopie von der Befreiung des Proletariats und die Arbeiterbewegung an sich waren von Beginn an kollektiv: Gleiche Interessen, gleiche Forderungen, die verbunden haben. In einer pluralistischen Gesellschaft, in der es viele unterschiedliche Arten von Arbeitsverhältnissen gibt, mag das schwieriger sein. Aber mit Blick an die Ränder, wo das große Aussieben und politisch verantwortete Herumwursteln stattfindet, gibt es auch heute noch genügend Potenzial für Kollektivinteressen – von den vielen anderen einmal abgesehen, genannt sei hier nur beispielhaft der NSA-Überwachungsskandal.

Wer seine Ressourcen nicht ausschöpft und sich nicht effizienter macht für das „Steigerungsspiel“, gerät beim Drehen leicht ins Trudeln – oder schlimmer, er dreht sich erst gar nicht. Wo Selbstoptimierung, Selbstmanagement und permanente Flexibilität zwingender Bestandteil eines Spiels sind, werden Freiheitsressourcen, wie Rosa das nennt, wieder eingezogen. Das Leben wird zum „Instrument im ökonomischen Existenzkampf“.

Wer daran nicht teilnimmt oder „ausgeschieden ist“ und seine Lebenszeit vermeintlich nicht opfert, um mitzuhalten, macht sich verdächtig. Dann tauchen schnell Begriffe, wie „soziale Hängematte“ oder „spätrömische Dekadenz“ auf. Zeit als den kostbarsten Rohstoff gönnt man niemand anderem gern.
Und so werden wir wohl leider lang und vergeblich darauf warten, dass ein Heer von Arbeitslosen, Aufstockern und Niedriglohnverdienern, die ihre Situation unerträglich finden und trotz mühevoller Anstrengungen auf der Stelle treten, ihre Rechte als BürgerInnen in der Öffentlichkeit  einfordern. Zu groß ist die Scham und das Stigma von „Hartz IV“ und „prekärer Vollerwerbsarbeit“, wie eine Studie des Jenaer Soziologen Klaus Dörre belegt (1), der gemeinsam mit Hartmut Rosa und Stephan Lessenich das „Kolleg Postwachstumsgesellschaften“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena ins Leben gerufen hat.

Und ebenso lange und vergeblich werden wir darauf warten, dass dies einmal am 1. Mai geschieht, dem „Tag der Arbeit“. Da hilft vermutlich auch kein ZEIT-Artikel von 2013, der den „Adel der Arbeitslosigkeit“ ausrufen will – so engagiert das auch sein mag.

Die Möglichkeit kollektiver Utopie-Entwürfe schwindet dort, wo Menschen auf sich selbst verwiesen sind, auf ihre Probleme und ihren „ökonomischen Existenzkampf“, der unmittelbar hier und jetzt spielt. Nicht morgen oder übermorgen. Zukunft hat im endlosen Steigerungsspiel des Kapitalismus ihre Bedeutung verloren.

 

 

Verweise:

(1) Prof. Dr. Klaus Dörre u.a.: „Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik“. Campus Verlag 2013.

 

Weiterführende Links:

Bei MDR-Figaro zum Nachhören: „Hat sich der Kapitalismus totgesiegt?“, Vortrag von Prof. Dr. Hartmut Rosa

Prof. Dr. Stephan Lessenich, Prof. Dr. Hartmut Rosa, Prof. Dr. Klaus Dörre u.a. „Kolleg Postwachstumsgesellschaften“ an der FSU Jena

Leipziger Buchmesse 2014 – Von Bücherdämmerung, diversen Lebensformen und Igor im dunklen Zimmer

OLYMPUS DIGITAL CAMERAEs ist Bücherfrühling in Leipzig. Vom 13. bis 16. März 2014 haben Bücherfreunde die Gelegenheit, sich neuen Stoff zu besorgen – Lesestoff natürlich. Die Neuerscheinungen sind zahlreich und nahezu unübersichtlich. Wer von Verlag zu Verlag schlendert fühlt sich bald erschlagen von der Vielfalt der Sortimente. Gut beraten ist, wer ein Lieblingsgenre, Lieblingsautoren oder Lieblingsvorträge auskundschaftet und sich zielorientiert durch die Menschen- und Büchermassen gräbt. Aber auch Medien und Moderatoren helfen aus und sortieren: Blaues Sofa, MDR, 3Sat, Deutschlandradio oder ARTE sind stets verlässliche Anlaufstellen für den Reizüberfluteten.

In den vergangenen Jahren bin ich dem Bücherrummel ferngeblieben und habe mich dem Geschmack der Redaktionen von ZEIT, 3Sat oder MDR-Figaro ergeben, die Buchmesse gemütlich im heimischen Sessel verfolgt. Dieses Jahr nun habe ich mich zum ersten Messetag nach Leipzig aufgemacht.  Der Flut der zahlreichen Neuvorstellungen von Büchern bin ich allerdings nur Herr geworden durch Beschränkung. Nach Recherche des Veranstaltungs- und des ein oder anderen Verlagsprogramms, habe ich mir drei Bücher herausgepickt, die ich in nächster Zeit ausführlich rezensieren möchte.

Ganz bewusst habe ich mich gegen die Gewinner des Leipziger Buchpreises entschieden: Saša Stanišiś mit seinem Roman „Vor dem Fest“, Helmut Lethen mit „Der Schatten des Fotografen“ in der Kategorie Sachbuch und Essayistik und Robin Detje mit seiner Übertragung von William T. Vollmans „Europe Central“. Diese Bücher werden sicherlich an anderer Stelle nicht nur eingehender, sondern auch mehrfach besprochen.

Stattdessen möchte ich hier drei andere Bücher vorstellen, die ebenfalls im Rahmen der Buchmesse vorgestellt worden sind und die mich darüber hinaus besonders neugierig gemacht haben:

 

BücherdämmerungDas ist als erstes ein Buch über das Buch selbst. Gemeinsam mit einigen Co-Autoren denkt Detlef Bluhm, Geschäftsführer im Börsenverein des Deutschen Buchhandels, „über die Zukunft der Buchkultur“ nach. Das Buch als Format steht seit langem nicht nur in Konkurrenz zu anderen Medienformanten, wie dem Fernsehen, speziell Fernsehserien, oder dem Internet, sondern immer mehr auch zu seinem heranwachsenden Bruder, dem E-Book. Die lebhafte Diskussion am 13. März im „Berliner Zimmer“ mit den Autoren Detlef Bluhm, Stephan Selle, Elisabeth Ruge, Volker Oppmann, Katja Splichal und dem Publikum hat mehr als deutlich gemacht, wie spannend die aktuellen Entwicklungen in der Buchbranche sind und wie emotional aufgeladen die Debatte zum Teil ist. Auf der einen Seite: Bücherliebhaber, die das haptische Erlebnis favorisieren und eine starke Bindung zum Gebrauchsgegenstand Buch suchen und eingehen. Auf der anderen Seite: Neugierige Visionäre, die unendlich viele Möglichkeiten in der interaktiven Nutzung des Buches oder präziser des Textes sehen – losgelöst von seiner Form. Das Thema ist brisant und dringend. Es reflektiert die durch eine neue Technik angestoßenen Umwälzprozesse im Verlagswesen und Buchhandel, die nun bereits seit einigen Jahren anhalten, aber noch weitgehend unbesprochen sind. Und dass über diese neue „Bücherdämmerung“ diskutiert und verhandelt werden muss, hat die Vorstellung des Buches „Bücherdämmerung. Über die Zukunft der Buchkultur“, druckfrisch am 12. März erschienen, deutlich gezeigt und damit erfolgreich auf sich selbst verwiesen.

 

Der unsichtbare ApfelEin ganz anderes Buch ist „Der unsichtbare Apfel“, ebenfalls druckfrisch in diesem Monat erschienen. Nicht nur, dass es ein Roman ist. Es ist auch ein Debüt. Es ist das schriftstellerische Erstlingswerk von Robert Gwisdek, Schauspieler, Sänger, Texter, Möbelmacher und Wanderer. Mit der Hauptfigur Igor, so verspricht es der Klappentext, gerät der Leser auf eine surreale Selbstfindungsreise. Er versteht die Welt nicht und die Welt ihn nicht. So begibt er sich für 100 Tage in einen abgedunkelten und schalldichten Raum. Was ihm dort begegnet, jenseits der Grenzen der Vernunft, verrät der Kiwi-Verlag leider nicht. Natürlich nicht.

 

 

 

Jaeggi_LebensformenAls drittes, um den Bogen komplett zu machen, habe ich mir die philosophische „Kritik von Lebensformen“ von Rahel Jaeggi herausgepickt. Das Buch ist zwar bereits im Dezember 2013 erschienen, passt zeitlich aber noch prima in den Bücherfrühling. Die Autorin, Philosophin und Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin, geht der Frage nach, ob Lebensformen in einem liberalen Rechtsstaat kritisiert werden dürfen oder nicht. Das ist nun ein sehr spannendes Thema, da sich natürlich, so behaupte ich, jeder Mensch selbst einmal im Leben die Frage stellen wird, ob seine Art zu leben, sei es – pointiert gesagt – als Vollzeitmama oder Vollzeitjobber, ob seine Lebensweise determiniert oder tatsächlich selbstgewählt ist, und weiter, ob man andere Lebensentwürfe als das akzeptiert, was sie sind, oder lediglich den eigenen als wertig betrachtet. Dass Lebensformen durchaus kritisierbar sind, da sie keineswegs „reine Geschmackssache“, sondern ein „Bündel sozialer Praktiken“ sind, erklärte die Philosophin im Januar der österreichischen Zeitung „dieStandard“ in einem Interview. Welche Thesen sie genau anbringt und wie sie diese belegt, bleibt in ihrem Buch nachzulesen.

Eine Grenze durch die Kindheit

Wenn ich meine Generation anschaue, alte Schulkameraden und Freunde, scheinen wir kaum anders als andere in unserem Alter. Niemand hält uns für anders. Und niemand redet darüber, dass wir noch in der DDR aufgewachsen und zur Schule gegangen sind. Wenn ich heute daran zurückdenke, an mein kurzes Leben in der „kleinen DDR“, kommt mir nichts falsch vor. Damals kannte ich nichts anderes. Rede ich aber heute darüber, rutschen die Menschen unwohl auf ihren Stühlen hin und her. Das ist doch Schnee von gestern. Sie streichen meine Erinnerungen durch, das erste Lebensgefühl und schlussendlich das Leben meiner Eltern und all der anderen Erwachsenen – als habe es nie existiert. Die DDR ist kein Land, das in weiter Ferne auf einem anderen Kontinent liegt, keiner kann es je wieder bereisen – nur noch in der Erinnerung. Und die verblasst.

Für mich ist der Geschmack von Fassbrause, bitzelndem Erdbeerquark und Omas Bratkartoffeln mit einem Land verbunden, das ich nie richtig kennen gelernt habe. An das Binden des Pionierhalstuches kann ich mich  erinnern. Aber alles andere, was wir Kinder dort in kleinen Kinosälen oder auf dem Pausenhof machten, aufgestellt vor redenden Erwachsenen, kann ich mir nur zusammen reimen. In meinem Gedächtnis liegt eine Schnipselspur von Erinnertem. Früher, als Kind und Jugendliche, war daran eine Empfindung geknüpft, heute schaue ich wie durch ein Fernglas dorthin zurück und fühle nichts. Vergessen. Selbst an die Orte kann ich nicht zurück gehen, die Teil dieser Geschichte waren.

Die Tuchfabrik, in der meine halbe Familie gearbeitet hat und wo ich oft mit meiner Oma und meiner Schwester Mittagessen war, ist leerer roter Backstein, der von grün überwuchert ist. Die Schule, in die ich gegangen bin, ist eine andere – sie trägt heute einen anderen Namen, nicht mehr den von Janusz Korczak, und auch das Gebäude kommt mir fremd vor. Die erste Turnhalle, in der ich Purzelbäume schlug, steht ebenfalls auf einem verlassenen Fabrikgelände und ist nicht mehr zugänglich. Auf einem Foto trage ich einen Pullover, nicht schwarz-weiß wie das Bild, sondern rot wie in meiner Erinnerung, mit einem Rennauto-Motiv. Den mochte ich sehr gern und ich freue mich, dass wir gemeinsam festgehalten sind in dieser Turnhalle. Vielleicht existiert dieses Foto aber auch gar nicht und ich wünsche es mir nur.

Selbst die Klettergiraffe auf dem Spielplatz in der Bürgerheide – für viele Einheimische ist es noch der Leninhain – ist eine andere: Ihr Hals reckt nicht mehr nach oben in die Baumwipfel, sondern ist gesenkt Richtung Sand, zu gefährlich sonst für spielende Kinder. Das sieht sehr unglücklich aus, nicht nur für mutige Kinderäffchen.

Ich bin kein Ostalgiker, der nachgemachten Produkten hinterherjagt, um seine Kindheit wiederzufinden. Die lässt sich nicht erkaufen. Und außerdem, was wusste ich denn mit meinen fünf oder sieben Jahren schon von den vielen DDR-Produkten. Von den meisten kannte ich nur den Geschmack oder wusste, wie sie sich anfühlten, kuschelweiche Miezekatze mit angemaltem, gutmütigem Plastikgesicht. Die Namen und Firmenprodukte erfahre ich erst später, oft nur beiläufig in nostalgischen Gesprächen der Erwachsenen bei Feierlichkeiten.

Fast über Nacht hatte sich etwas verändert, das mir weit, weit weg erschien. Meine Eltern redeten über Hans Modrow und andere Männer. Ich sah sie, wie sie im Fernsehen durch komische Brillen ernst dreinblickten und begriff nicht, was passiert war. Zum darauffolgenden 1. Mai gab es keinen Umzug mehr und keinen mit Bändern und Maigrün geschmückten Roller, mit dem ich an unzähligen Menschen vorbeisausen konnte, die am Straßenrand standen und winkten. Darüber war ich enttäuscht. Und meine Schwester weinte, weil sie, ein Jahr später eingeschult, von den Lehrern keine Noten bekam, sondern Bienchen und Blümchen. Das fanden wir unfair. Etwas, auf das wir uns freuten, ganz Kinder, war plötzlich weg.

Dafür veränderte sich die Stadt, der kleine Konsum und Delikatessenladen verschwand, das Kaufhaus hieß plötzlich „Kaufring“ und war Paradies geworden, gefüllt mit Kuscheltieren, die ich alle besitzen wollte. Im Fernsehen liefen bunte Bilder von Spielzeug, das ich ebenfalls haben wollte. Ich wollte alles haben, wenn es schon alles gab, das Glück, Freude und Unbeschwertheit versprach. Mein Roller war mir egal geworden und verstaubte im Keller. Stattdessen wünschte und bekam ich Kuscheltiere, nicht nur eins. Egal, wo es Kuscheltiere gab, im Edeka an der Ecke, im Kaufhaus oder Penny, ich musste es haben. Und was ich nicht von meinen Eltern bekam, kaufte ich mir heimlich von meinem Taschengeld. Die Teddys und Hasen und Enten und Kraken und Schlangen aus Plüsch füllten mich aus – kurzzeitig. Ich war nie lange glücklich. Und die Kinder in der Schule hatten immer neues Spielzeug, neue Musik- und Hörspielkassetten oder Sticker in ihrem Stickeralbum – paralysierende Glitzerdinge in blendenden Farben, die ich nicht oft genug ansehen konnte. Im Fernsehen liefen Zeichentrickfilme den ganzen Tag, die ich sehen musste, später Musikvideos und Charts, die ich ebenfalls sehen musste. Ich konnte das alles herunterbeten, wusste Interpret und Titel und in der Schule mochten mich alle.

Vielleicht wollte ich nur vergessen, dass irgendetwas fehlte und anders war. Vielleicht habe ich mich dieser bunten Warenwelt auch nur erschrocken hingegeben, weil ich sah, wie viele Farben und Dinge es gibt, die ich nicht kannte, aber unbedingt kennenlernen wollte – Schockeffekt. Doch die Ernüchterung blieb nicht aus. Der mit Batterie laufende Hund an rosafarbener Hundeleine mit Ein-Aus-Schalter lag irgendwann vergessen in einer Ecke. Er bellte nur mechanisch, war langsam und hart, keinesfalls zum Kuscheln geeignet. Andere Plüschtiere schon, aber sie kuschelten nicht zurück. Ich fühlte mich allein und wusste nicht, warum.

Es kursieren Bezeichnungen für uns Wendekinder, die etwas suchen, was sie sich nie richtig aneignen konnten und wenn doch oder nur halbwegs, es plötzlich verloren hatten: „3. Generation“, „Eisenkinder“ oder „Generation der Unberatenen“.

Aber das sind nur Namen, die mehr verbergen als klären. Sie erzählen nichts von der ganz eigenen Wahrnehmung einer Kindheit, durch die eine Grenze verläuft, sie in ein Davor und Danach teilt. Für welche Seite entscheiden? Muss ich mich entscheiden?

Die DDR, wie sie im Nachhinein historisch aufgearbeitet und dargestellt wird, ist eine andere als ich kennengelernt habe. Es passt nicht zusammen, erzeugt einen Widerspruch, der mich teilt. Das macht mich ratlos. Ich möchte mich nicht entscheiden, sondern bewahren, was für mich die DDR war, in der ein Teil meiner Kindheit liegt, den ich nicht vergessen möchte. Ich kann ihn nicht einfach abschneiden. Schnippschnapp. „Das wird schon wieder.“ Denn nichts wird wieder, weg ist weg.