Zurückgeschaut: „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920)

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Als „Das Cabinet des Dr. Caligari“ im Februar 1920 Premiere hatte, waren noch lange nicht die Wogen eines Krieges geglättet, während sich in der Ferne bereits ein weiterer zusammenbraute. Nichts ist, wie es scheint. Wo sich Normalität neu konstituiert, geht in der Dunkelheit das Grauen um.

CABINETOFDRCALIGARI-posterDass etwas nicht stimmt in diesem Film, wird bereits mit den schiefen und befremdlich angemalten Kulissen deutlich, in denen sich die Figuren bewegen. Vergeblich sucht der Zuschauer eine gerade Linie, die Häuser neigen sich und kippen, gehorchen keiner bekannten Ordnung. Was aus Kostengründen expressionistisch bemaltes Sperrholz und Pappmachee ist, entwickelt im Film selbst eine bedrückend surreale Stimmung. Die Grundthemen Angst, Wahnsinn und Machtmissbrauch könnten nicht merklicher in Szene gesetzt sein.

Die eigentliche Handlung beginnt mit einem Jahrmarkt, den die Freunde Franzis und Alan besuchen und dort das Cabinet des Dr. Caligari. Der stellt einen Somnambulen, einen Schlafwandler namens Cesare aus, der nur seinem Willen gehorcht und die Zukunft vorhersagen kann. Dass der Mörder, der in dem Städtchen Holstenwall nachts sein Unwesen treibt, auf unheimliche Art mit Dr. Caligari verknüpft ist, erkennt Franzis erst, als es zu spät ist, Alan ermordet und seine Verlobte Jane von dem Mörder entführt ist.

Er entdeckt bestürzt, dass Dr. Caligari tatsächlich Direktor einer Irrenanstalt ist und, in den Wahnsinn getrieben, einen somnambulen Patienten missbraucht, um mit ihm als Werkzeug unbemerkt Morde zu begehen. Doch wird diese Binnenhandlung durch eine Rahmenhandlung in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht der Direktor ist wahnsinnig, sondern alle anderen Figuren. Franzis, Jane und auch Cesare sind Insassen jener Irrenanstalt. Die Welt scheint ganz und gar surreal verzerrt.

Siegfried Kracauer sah in Dr. Caligari Adolf Hitler antizipiert und mithin den Massenwahn. Doch man muss gar nicht derart weit ausgreifen, um die Wirkung des Filmes historisch einzuordnen. Die Angst und der Schrecken, die unter der Oberfläche brodeln, verweisen zurück auf die Traumata des Ersten Weltkrieges, die brutale Zerstörungswut und die seelischen wie psychischen Wunden, die sie in den Menschen geschlagen hat. Man denke nur an den marionettenhaft-spinnbeinigen Cesare, der, seine willenlos begangenen Verbrechen erkennend, in wildes Taumeln gerät und auf einem Feld wie tot niederstürzt.

Doch kann man ebenso gut den Begriff der Moderne hineindenken, Freuds Psychoanalyse und die technologische Beschleunigung zu Beginn des Jahrhunderts, für die sowohl der Erste Weltkrieg als auch das Kino selbst Ausdruck ist. Hingegen die grotesken und mystischen Züge, das Motiv des Schlafwandlers, ein Rückgriff in die Romantik à la E.T.A. Hoffmann, das intensive Licht- und Schattenspiel, die surrealen Kulissen, die jedem Realismus zuwiderlaufen, und das ausdrucksstarke Spiel der Darsteller, allen voran Friedrich Feher und Conrad Veidt, weisen „Das Cabinet des Dr. Caligari“ als Paradebeispiel des expressionistischen Films aus.

Diesem eigentümlichen Stil ist es zu verdanken, dass Robert Wienes Film nicht nur das deutsche Kino schlagartig in der Welt bekannt machte, sondern „Das Cabinet des Dr. Caligari“ auch Filmgeschichte schrieb. Fast 100 Jahre später, am 9. Februar 2014 wurde im Rahmen der Berlinale eine von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung digital restaurierte Fassung des Films gezeigt, musikalisch auf der Orgel begleitet von Multi-Instrumentalist John Zorn.  Am 12. Februar 2014 lief „Das Cabinet des Dr. Caligari“ erstmals im Fernsehen auf ARTE.

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