Zurückgeschaut: „Buffalo 66“ von Vincent Gallo (1998)

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buffalo-66-162757lDer Schauspieler, Musiker, Fotograf und Künstler Vincent Gallo debütierte 1998 mit „Buffalo 66“ als Regisseur. Er selbst übernahm die Hauptrolle und setzte Christina Ricci als Co-Partnerin an seine Seite. Gemeinsam spielen sie ein Paar wider Willen, das sich nicht eigenwilliger hätte finden können.

Billy Brown, der 10.000 Dollar bei einer Sportwette verloren hat, geht als Schuldner für das Vergehen eines anderen ins Gefängnis. Fünf Jahre später wird er entlassen und beschließt, den Footballspieler der Buffalo Bills zu erschießen, der damals den Fieldgoal vergeigt und ihn damit um seinen Wettgewinn gebracht hat. Um aber zunächst beim Besuch seiner Eltern zu glänzen und das Lügengebäude der letzten Jahre aufrecht zu halten, er sei erfolgreich und verheiratet, entführt er kurzerhand und goldrichtig, wie sich herausstellen wird, die Tanzschülerin Layla (Christina Ricci). Sie muss sich als seine Ehefrau ausgeben.

buffalo66259371lErscheint Billy bis dahin bereits als neurotischer, unnahbarer und exzentrischer Charakter mit roten Lederstiefeln, setzt der Besuch bei seinen Eltern dem ganzen die Krone auf. Nicht nur, dass ihm die Buffalo Bills fünf Jahre seines Lebens gekostet haben. Sein gesamtes Leben reduziert sich auf die Footballmannschaft und mithin den Moment seiner Geburt 1966, „Buffalo 66“, als seine Mutter, fanatischer Fan, die Buffalo Bills beim Superbowl nicht anfeuern konnte und sie verloren – natürlich trägt Billy die Schuld.

Die leeren Straßen von Buffalo, die nackten Häuserfronten und insgesamt karg wirkenden Bilder mit den kühlen, zurückgenommenen Farben, spiegeln Billy Browns zwangsneurotische, von unbewältigten Schuldgefühlen geprägte Einsamkeit deutlich wider – wunderbar zerrissen und grüblerisch gespielt von Vincent Gallo. Er erträgt keine Nähe und stößt Layla grob von sich, die er erst zwingt bei ihm zu bleiben und die schließlich selbst nicht gehen möchte. Christina Ricci spielt dieses junge, etwas naive, aber ganz und gar gutherzige Mädchen mit den glitzernden Tanzschuhen, als könnte sie alles für Billy Brown sein. Sie verliebt sich in diesen eigenartigen jungen Mann, der in der Badewanne wie ein kleiner Junge aussieht – zornig, verkrampft, trostlos.

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Die Eltern (Anjelica Huston, Ben Gazzara), die nur ein einziges Kinderfoto von Billy besitzen; Billys zwanghafte Unnahbarkeit, deren Grenzen in einer Fotokabine mit Layla arg strapaziert wird; sein schwerfälliger Freund Gorilla (Kevin Corrigan) oder Laylas naive Versuche, Billy vor seinen Eltern als CIA-Agent in ausgezeichnetem Licht strahlen zu lassen: All das erzeugt grotesk-komische Momente, die das Grundthema der allgemeinen Trostlosigkeit angenehm konterkarieren und das Drama zum Leuchten bringen.

Über Umwege, wie einem geplanten und doch wieder verworfenen Mord, dem Besuch in der Bowlinghalle, wo Billy Bowlingerfolge feierte und sich anerkannt fühlt, und einem schäbigen Hotelzimmer, gelangt „Buffalo 66“ in dieser hinreißenden Manier zwischen melancholischer Absurdität und Komik zu einem versöhnlichen Ende – für die Hauptfiguren ebenso wie für den Zuschauer.

Nicht zu vergessen: Der Film wird begleitet von Liedern, die Vincent Gallo selbst komponiert, geschrieben und gesungen hat. Damit geriert „Buffalo 66“ zu einem kleinen Gesamtkunstwerk, das sich sehen lassen kann und mit einfachen erzählerischen Mitteln und Bildkompositionen mehr erreicht, als manch anderer, aufwendig inszenierter Film.

Zurückgeschaut: „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920)

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Als „Das Cabinet des Dr. Caligari“ im Februar 1920 Premiere hatte, waren noch lange nicht die Wogen eines Krieges geglättet, während sich in der Ferne bereits ein weiterer zusammenbraute. Nichts ist, wie es scheint. Wo sich Normalität neu konstituiert, geht in der Dunkelheit das Grauen um.

CABINETOFDRCALIGARI-posterDass etwas nicht stimmt in diesem Film, wird bereits mit den schiefen und befremdlich angemalten Kulissen deutlich, in denen sich die Figuren bewegen. Vergeblich sucht der Zuschauer eine gerade Linie, die Häuser neigen sich und kippen, gehorchen keiner bekannten Ordnung. Was aus Kostengründen expressionistisch bemaltes Sperrholz und Pappmachee ist, entwickelt im Film selbst eine bedrückend surreale Stimmung. Die Grundthemen Angst, Wahnsinn und Machtmissbrauch könnten nicht merklicher in Szene gesetzt sein.

Die eigentliche Handlung beginnt mit einem Jahrmarkt, den die Freunde Franzis und Alan besuchen und dort das Cabinet des Dr. Caligari. Der stellt einen Somnambulen, einen Schlafwandler namens Cesare aus, der nur seinem Willen gehorcht und die Zukunft vorhersagen kann. Dass der Mörder, der in dem Städtchen Holstenwall nachts sein Unwesen treibt, auf unheimliche Art mit Dr. Caligari verknüpft ist, erkennt Franzis erst, als es zu spät ist, Alan ermordet und seine Verlobte Jane von dem Mörder entführt ist.

Er entdeckt bestürzt, dass Dr. Caligari tatsächlich Direktor einer Irrenanstalt ist und, in den Wahnsinn getrieben, einen somnambulen Patienten missbraucht, um mit ihm als Werkzeug unbemerkt Morde zu begehen. Doch wird diese Binnenhandlung durch eine Rahmenhandlung in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht der Direktor ist wahnsinnig, sondern alle anderen Figuren. Franzis, Jane und auch Cesare sind Insassen jener Irrenanstalt. Die Welt scheint ganz und gar surreal verzerrt.

Siegfried Kracauer sah in Dr. Caligari Adolf Hitler antizipiert und mithin den Massenwahn. Doch man muss gar nicht derart weit ausgreifen, um die Wirkung des Filmes historisch einzuordnen. Die Angst und der Schrecken, die unter der Oberfläche brodeln, verweisen zurück auf die Traumata des Ersten Weltkrieges, die brutale Zerstörungswut und die seelischen wie psychischen Wunden, die sie in den Menschen geschlagen hat. Man denke nur an den marionettenhaft-spinnbeinigen Cesare, der, seine willenlos begangenen Verbrechen erkennend, in wildes Taumeln gerät und auf einem Feld wie tot niederstürzt.

Doch kann man ebenso gut den Begriff der Moderne hineindenken, Freuds Psychoanalyse und die technologische Beschleunigung zu Beginn des Jahrhunderts, für die sowohl der Erste Weltkrieg als auch das Kino selbst Ausdruck ist. Hingegen die grotesken und mystischen Züge, das Motiv des Schlafwandlers, ein Rückgriff in die Romantik à la E.T.A. Hoffmann, das intensive Licht- und Schattenspiel, die surrealen Kulissen, die jedem Realismus zuwiderlaufen, und das ausdrucksstarke Spiel der Darsteller, allen voran Friedrich Feher und Conrad Veidt, weisen „Das Cabinet des Dr. Caligari“ als Paradebeispiel des expressionistischen Films aus.

Diesem eigentümlichen Stil ist es zu verdanken, dass Robert Wienes Film nicht nur das deutsche Kino schlagartig in der Welt bekannt machte, sondern „Das Cabinet des Dr. Caligari“ auch Filmgeschichte schrieb. Fast 100 Jahre später, am 9. Februar 2014 wurde im Rahmen der Berlinale eine von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung digital restaurierte Fassung des Films gezeigt, musikalisch auf der Orgel begleitet von Multi-Instrumentalist John Zorn.  Am 12. Februar 2014 lief „Das Cabinet des Dr. Caligari“ erstmals im Fernsehen auf ARTE.

„Am Beispiel meines Bruders“ von Uwe Timm (2003)

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Der Autor, ein Kind des Zweiten Weltkriegs, gehört zu einer Generation von Männern und Frauen, die diesen Krieg und seine Zusammenhänge nahezu unbewusst erlebten, aus der Sicht eines Kindes: unfassbar das Ganze, nur im begrenzten Raum auf winzige Erfahrungen beschränkt und im Nachhinein erkennbar sich ausdrückend im Handeln und Denken jenes ersten, engsten Lebenskreises: der Familie.

Uwe TimmUwe Timm erinnert sich in diesem Buch an seinen 1943 im Krieg verwundeten und verstorbenen Bruder Karl-Heinz: mittels Erinnerungsfetzen des damals zwei- bzw. dreijährigen Jungen Uwe, aus Erzählungen der Eltern; anhand von Fotos, der Tagebuchaufzeichnungen und den Briefen des Bruders nach Hause. Er zitiert aus diesen, streut Gedanken über Fotos ein, die er betrachtet oder über die vom Bruder gebliebenen, in einem Kästchen verstauten Dinge, und stellt Überlegungen an. Im Zuge dieses gedanklichen „Zurückkehrens“ entwickelt Timm eine Art totaler Wahrnehmung: er sieht, riecht und schmeckt seine Kindheit, fühlt dem Händedruck seiner Mutter nach und beobachtet, erinnert genau, lauert und forscht in dieser, seiner Vergangenheit, und schreibt sie nieder. Jene Zeit, in der geschwiegen wurde, Augen geschlossen wurden und das Vergessen jegliche Erinnerung ersticken sollte.

Es ist, natürlich, die Frage nach der (Mit-)Schuld: des Bruders und auch der Familie, die sich zu entspinnen beginnt und ausgreift in den kritischen Blick auf eine Generation, die zugleich Vätergeneration ist. Familienkonflikte werden auf die durch einen Krieg und ein Gewaltregime geprägte Gesellschaft übertragen. Ein Wechselspiel entfaltet sich, das in den Gedanken des Autors hin und her geschoben, neu verbunden und verknüpft wird, ohne den Blick auf jenen Menschen zu verlieren, dessen Ergründung augenscheinlich Ziel und Aufgabe des Buches ist. Dabei wird das Erinnern und vor allem das Schreiben für den Autor quasi zur körperlichen Anstrengung: Es geht nahe. „Der Bruder und ich.“ – Uwe Timm verarbeitet in diesem Buch auch ein Stück von sich selbst, spürt dem Vergangenen rücksichtslos nach.

„Am Beispiel meines Bruders“ fragt in besonderer Weise nach den Menschen, ihren Reaktionen, ihrem Verhalten und auch ihren Gefühlen. Es mag in jener breiten Sparte über das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg oder den Nationalsozialismus nur ein weiteres Buch sein. Doch liefert gerade Timms literarische Auseinandersetzung eine weitere, wenn nicht gar andere Perspektive, sich dieser Thematik zu nähern. Aus der Sicht eines Kindes wird auf einen „unfassbaren“ Bruder geblickt; erinnert sich ein Mann, der scharf und erbarmungslos seiner Familie auf den Zahn fühlt. Er dreht und wendet jedes Detail, besieht, befühlt und erfasst bewusst alles von neuem, so dass ein Erinnerungsband entstanden ist, der händeringend nach Verstehen sucht und letztlich auch Bekenntnis ist.

„Commedia dell‘ arte. Struktur – Geschichte – Rezeption“ von Henning Mehnert (2003)

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Reclam-Büchlein nehme ich immer wieder gern zur Hand, ob belletristische Klassiker oder Überblicke zu literarischen Epochen und Gattungen. Sie sind handlich und bieten als kleines Format reichlich Inhalt. Wie zum Beispiel Henning Mehnerts „Commedia dell’arte. Struktur – Geschichte – Rezeption“.

Commedia dell arteAuf dieses Büchlein bin ich aus reiner Neugierde gestoßen, weil ich mehr erfahren wollte über die Commedia dell’arte, auf die ich insbesondere durch E.T.A. Hoffmanns „Phantasiestücke in Callots Manier“ gekommen bin, über die ich bisher aber nur Vages zu sagen wusste.

Henning Mehnert, Romanist und Altphilologe, bietet in essayistischer Manier einen informationsreichen Überblick zu dem volkstümlichen Improvisationstheater, das im 16. Jahrhundert in Italien entstanden ist. Beginnend mit der sogenannten „Narrentreppe“ auf Burg Trausnitz, eine „durch den ganzen Bau führende Wendeltreppe […] mit Grotesken und Szenen aus der Commedia dell’arte“, setzt er mitten in deren Geschichte ein und dem wohl ersten Auftreten einer solchen Theatergruppe in Deutschland.

Von dort ist es kein weiter Weg zurück zum Entstehungsort Italien, der ersten Schauspielgruppe „Compagnie di Maffio“ 1545 in Padua und den vielen anderen, die im 17. Jahrhundert allmählich auch ins Ausland wandern, Moliere, Shakespeare und Gryphius beeinflussen.

Von den Grundmasken und den typischen Figuren, Pantalone, Dottore, Zani, Arlecchino und so weiter, ihrer Ausstattung und den Mitteln der Commedia dell’arte, ob „lazzi“, „burle“, „scenari“, „zibaldone“ oder „tirate“, ob grobe Scherze, Aktionskomik, Akrobatik oder groteske Mimik und Gestik, geht es zu ihrem Niedergang durch Goldonis Theaterreform im 18. Jahrhundert und ihrem Aufleben in der Rezeption, sei es in Frankreich, Spanien oder Russland,  den Hanswurstiaden in Österreich oder dem Lustspiel in Deutschland.

Das liest sich alles locker und leicht, ist angereichert mit vielen Textbeispielen und italienischen Ausdrücken, die zu keinem Zeitpunkt zu viel oder anstrengend wirken. Im Gegenteil, als Leser findet man sich dadurch erst richtig hinein in die über 500 Jahre alte literarische Gattung, entwickelt ein Gefühl für ihre Merkmale und ihr Wesen.

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Ein besonderes Plus ist deshalb der umfangreiche Anhang: Farbtafeln mit Abbildungen einiger Charaktermasken sowie nochmals zahlreiche Textbeispiele, wie das von Massimo Troiano, jenen ersten ausführlichen Bericht von 1568 über die Aufführung einer Commedia dell’arte.

Dieses Büchlein ist jedem Schüler, Studenten und Interessierten empfohlen, dem Wikipedia nicht genügt und wissenschaftliche Abhandlungen zu umfangreich sind. Wer dann immer noch weiterlesen möchte, dem empfiehlt Henning Mehnert am Rande immer wieder interessante Lektüre, die tiefer in die Commedia dell’arte führt.